Was war das Erziehungsprodukt in Deutschland? Ein unfreier, selbstunsicherer, geduckter Mensch. Ein tödlicher Kreislauf wurde in Gang gesetzt, der im Nazismus kulminierte. Je mehr der deutsche Mensch durch die Jahrhunderte hindurch jener Eigenverantwortung entwöhnt wurde, die in den guten alten Zeiten noch selbstverständlich gewesen war, desto weniger war er auch in der Lage, mit Freiheit etwas anzufangen. Unsicher geworden, suchte er nach dem autoritären Halt. Um überhaupt leben zu können, benötigte er wie jemand, der des Laufens entwöhnt ist, Krücken und Führer.
(Fritz Bauer, Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns, S. 59)
Der unsentimentale Blick der Exilantin. Zur allzu präsenten „Flucht vor der Wirklichkeit“, die „natürlich auch eine Flucht vor der Verantwortung“ war, machte Hannah Arendt 1949 bei ihrem ersten Besuch Nachkriegsdeutschlands einen eigentümlichen Umgang mit der Vergangenheit aus: „Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen ein Achselzucken übrig haben oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen, dann begreift man, dass die Geschäftigkeit zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr geworden ist.“ Dabei war Arendt beileibe nicht die Ausnahme unter den Exilanten; die, die sich dem Nazi-Regime verweigert hatten, verweigerten sich nicht selten auch dem Verdrängen. Also der bequemen Vorstellungswelt, dass die Nazis 1933 vom Mond gefallen sind, 1945 wieder vom Erdboden verschwanden und zwischendurch arg- und wehrlose Deutsche verführt haben.
In dieser Hinsicht stellte – wenig überraschend – Fritz Bauer keine Ausnahme unter den Exilanten dar. Mehr noch, Bauer, der 1949 zurück nach Deutschland kam und in der Bundesrepublik zunächst als Generalstaatsanwalt in Braunschweig, dann als hessischer Generalstaatsanwalt für die Rehabilitierung der Widerstandskämpfer („Ein Unrechtsstaat wie das Dritte Reich ist überhaupt nicht hochverratsfähig“) und die juristische Verfolgung der NS-Verbrecher kämpfte, machte für die Nazibarbarei eine Untertanenmentalität verantwortlich, die sich in Deutschland über Jahrhunderte etabliert hat. In dem schmalen Band „Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“ kommt sogar nur eine Epoche der deutschen (Früh-)Geschichte wirklich gut weg, die der alten Germanen. Danach – also noch in grauer Vorzeit – begann das Elend aus Gehorsam und Staatsvergottung.
Während die Ideale des römischen Reiches „Autorität, Über- und Unterordnung“ waren, bevorzugten die „alten Germanen und später die Skandinavier, Engländer und dann die Amerikaner“ laut Bauer „Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung“. Die alten Römer „wurden Meister der begrifflichen Definitionen, und Bürger und Untertanen wurden Opfer der unerbittlichen logischen Operationen“, was den Germanen komplett abging. Ihnen ging es um „Sittlichkeit und Moral, die zur obersten Richtschnur für ihre Rechtsprechung wurden“. Damit „gehörte die Überzeugung, dass auch Gesetz und Befehl rechtswidrig und verbrecherisch sein können“, zu ihrer „rechtlichen Großtat“. Eine Großtat, die sich nicht nur dadurch auszeichnete, dass das „germanische Recht […] keinen blinden und unbedingten Gehorsam“ kannte, sondern auch durchs Appellieren ans Gewissen: „Aus Gewissensgründen konnte, durfte und musste der freie Mensch – und dadurch zeichnete er sich vor dem Sklaven aus – sich auflehnen, wenn Kaiser, König oder Papst Unrecht taten oder befahlen.“
Von Kant zum Genickschuss
Ein Rechtsverständnis, das etwa bei den Angelsachsen fortlebte, die sich der Übernahme des Römischen Rechts verweigerten. Und entsprechend die Magna Charta und die Petition of Rights hervorbrachten, schließlich über Amerika und Frankreich auch die Menschen- und Bürgerrechte. Deutschland dagegen übernahm nicht nur das Römische Recht, sondern sah sich als Heiliges Römisches Reich deutscher Nation auch als Nachfolger des cäsarischen Reichs an; die germanische Liebe zur Freiheit wurde durch eine deutsche zum Gehorsam ersetzt. Und dies als Sonderweg: „Deutschland war das einzige Land in Westeuropa, das in der späteren Entwicklung sich den demokratischen und liberalen Ideen verschloss.“
Unterfüttert wird diese „Vergötzung des Gesetzes schlechthin, selbst des sinn- und gottwidrigen“ von Bauer mit einem (zu?) schnellen Ritt durch die deutsche Geschichte, bei dem nicht nur – erwartungsgemäß – Georg Wilhelm Friedrich Hegel sein Fett wegbekommt, sondern auch Martin Luther, Friedrich der Große, Otto von Bismarck und schließlich sogar Immanuel Kant. Letzterem macht Bauer zum Vorwurf, dass dieser auf die Frage, ob es legitim sei, einen Tyrannen durch Aufruhr zu stürzen, mit folgenden zwei Sätzen geantwortet hat: „Die Rechte des Volkes sind gekränkt und ihm, dem Tyrannen, geschieht kein Unrecht durch die Entthronung, daran ist kein Zweifel. Nichtsdestoweniger ist es doch von den Untertanen im höchsten Grade unrecht, auf diese Art ihr Recht zu suchen, und sie können ebensowenig über Ungerechtigkeit klagen, wenn sie in diesem Streite unterlägen und nachher deshalb die härteste Strafe ausstehen müssten.“ Sätze, die sich laut Bauer „wohl nur in der deutschen Philosophie“ finden würden. Und, auch: „Anderswo wurde erklärt: wo Unrecht geschieht, tut Widerstand not“.
Eine einseitige Betrachtung Kants, die dadurch verschärft wird, dass Bauer gleich im Anschluss über den Rechtsphilosophen Friedrich Julius Stahl und die Mordmaschinerie der Nazis zu sprechen kommt: „Kant steht fürwahr nicht allein. Stahl, ein deutscher Rechtsphilosoph, der auch die preußische Konservative Partei gegründet und viel zur Ideologie des gesamtdeutschen Konservatismus beigetragen hat, ist in seine Fußstapfen getreten, wenn er zynisch schrieb: ‚Auch in gottwidriger Beschaffenheit behält das Recht sein bindendes Ansehen.‘ Gesetz ist Gesetz, auf seinen Inhalt kommt es gar nicht an; Gehorsam wird immer geschuldet; Beamte müssen zuverlässige Instrumente einer Obrigkeit sein und bleiben. Mechanik ist wichtiger als Moral. Von hier bis zur Polenstrafrechtsverordnung, zu der ‚Sonderbehandlung‘, zum Genickschuss durch die Gestapo, bis zu den Vernichtungslagern von Auschwitz, Treblinka, Maidanek usw. führt ein gerader Weg.“
Die CDU war schwer empört
Diese einseitige Betrachtung der deutschen Geschichte hat 1962 eine Debatte ausgelöst, die (wenig überraschend) entlang der politischen Lager geführt wurde. Während sich die SPD für Bauer einsetzen, waren es Vertreter der CDU, die seine Geschichtsdarstellung verwarfen. Und das bis hin zum absurden Vorwurf, dass Bauer damit der „fast krankhaften Vaterlandslosigkeit so vieler Deutscher“ Vorschub leisten würde. Bauer selbst rechtfertigte sich mit der Entstehungsgeschichte von „Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“: Entstanden war die Darstellung nicht als Buch oder als Essay, sondern bereits 1960 als ein Vortrag für den Landesjugendring Rheinland-Pfalz. Dieser hatte ihn nach den Wurzeln des Nationalsozialismus gefragt, weshalb er sich in seinem Vortrag auch auf eben diese beschränkte, eine umfassende Geschichtsbetrachtung sei schon aus praktischen Gründen nicht möglich gewesen. Salopp gesagt, Bauer musste sich schon aus zeitlichen Gründen auf das fokussieren, was in der deutschen Geschichte schiefgelaufen ist.
Dass es überhaupt zu einer großen Debatte kam, lag ebenfalls am Landesjugendring Rheinland-Pfalz, dieser war nämlich von dem Vortrag so angetan, dass er ihn nicht nur (mit Bauers Einverständnis) als Broschüre drucken ließ, sondern die Forderung erhob, dass diese doch künftig als Lehrmaterial in den Schulen eingesetzt werden sollte. Wodurch aus dem Vortrag ein amtlicher Vorgang mit Gutachtern und parlamentarischer Debatte wurde; ein Politikum war geboren.
Die Debatte selbst, ob die Nazis 1933 vom Mond gefallen sind oder ob die deutsche Geschichte im Nationalsozialismus kulminieren musste, dürfte heute vermutlich erheblich differenzierter geführt werden. Schlichtweg, weil keine der beiden Sichtweisen zutrifft – Deutschlands Geschichte war erheblich vielschichtiger; es war nie das Untertanenland par excellence, vom angeblich antidemokratischen Sonderweg sprechen auch nur noch die wenigsten Historiker. Gleichzeitig lassen sich aber auch über die Jahrhunderte Linien ziehen, etwa von Luthers Antijudaismus zum Antisemitismus der Nazis. Es ist, wie so oft, kompliziert.
Faschismus und Nationalsozialismus
Ein Nebenaspekt, der bei der Debatte von 1962 stillschweigend übergangen wurde, aber dennoch – gerade fürs Heute – Relevanz hat, ist Bauers Eingrenzung vom Unrechtsstaat in „Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“. Denn Bauer unterscheidet nicht nur zwischen Faschismus und Nationalsozialismus (oder, wie er ebenfalls häufig schreibt, dem „Nazismus“ der „Nazis“ bzw. „Nazisten“), sondern er macht den Unrechtsstaat an eben jener Differenz fest
„Unter Faschismus pflegen wir ein totalitäres System zu verstehen“, so Bauer, „das durch irgendeine Form von Führerprinzip, das Verbot, Parteien nach Belieben zu bilden, das Fehlen einer Opposition und damit die Unterdrückung freier Meinungsbildung gekennzeichnet wird. Faschismus wäre also ein System, in dem die Freiheit des politischen, sozialen und kulturellen Denkens und Handelns beseitigt ist. Was ist demgegenüber Nazismus? Im Nazismus haben wir gleichfalls das Führerprinzip, das Ein-Parteien-System, die Tötung menschlicher Freiheit. Aber der Nazismus ist mehr. Er war ein Unrecht-Staat, was bedeutet, dass der Staat selbst, seine Gesetzgebung, seine Verwaltung und Rechtsprechung ganz oder in wesentlichen Teil kriminell geworden sind.“
Natürlich gab es Gemeinsamkeiten und Verwandtschaften zwischen Faschismus und Nazismus, entscheidend ist jedoch das „Aber der Nazismus ist mehr“, das Bauer anschließend am Antisemitismus, am Morden, an den Lagern und schließlich am entfesselten Vernichtungskrieg durchdekliniert: „Sicher, auch Mussolini war Diktator und Tyrann, Militarist und Imperialist“, so „verbrecherisch die vom Zaun gebrochenen Kriege gegen kleine Nationen waren“, so „waren [es] noch Kriege aus dem Geiste vergangener Zeiten. Ihr Ziel war nicht die Versklavung oder gar Vernichtung fremder Völker, die Hitler im Osten plante und begonnen hat.“ Entsprechend gibt’s auch „kein Grund, den italienischen Faschismus zu verharmlosen“, dessen System „antidemokratisch“ und „inhuman“ war. „Die kriminelle Wirklichkeit als Institution der Bewegung blieb leider aber Deutschland vorbehalten.“
Damit ist Bauer nicht nur wieder sehr nah bei Hannah Arendt, die den Faschismus in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft als vergleichsweise ordinäre Diktatur abtut, während totalitäre Herrschaft erst wirklich in der Überflüssigmachung von Menschen zu sich findet, Bauer hängt zudem auch die Messlatte für den Unrechtsstaat sehr, sehr hoch. Wenn nicht einmal der Faschismus ein Unrechtsstaat war, von welchem Regime kann man es dann – neben dem der Nazis – noch behaupten? Vermutlich der Sowjetunion unter Stalin, Mao-China während der Kulturrevolution, dem sich dem Massenmord verschriebenen Kambodscha unter Pol Pot – aber danach dürfte es mit der „kriminellen Wirklichkeit als Institution der Bewegung“ dünn werden. Und, trotz allem Ekel vor dieser Diktatur, auf die DDR dürfte der Begriff des Unrechtsstaates bei diesen Maßstäben auch nicht zutreffen.
Nachts sind alle Katzen grau
Wenn der Linkspartei-Politiker Bodo Ramelow also sagt, „Die DDR war eindeutig kein Rechtsstaat. Der Begriff ‚Unrechtsstaat‘ aber ist für mich persönlich unmittelbar und ausschließlich mit der Zeit der Naziherrschaft und dem mutigen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und seiner Verwendung des Rechtsbegriffs ‚Unrechtsstaat‘ in den Auschwitz-Prozessen verbunden“, dann hat er durchaus einen Punkt. Für Bauer war „Unrechtsstaat“ nicht einfach ein Begriff, den man jeder Diktatur einfach so umbinden kann; gleichzeitig war es Bauer, der in der Bundesrepublik den Begriff des Unrechtsstaates geprägt hat (beim Remer-Prozess). Man muss Ramelow damit erheblich mehr Substanz als Manuela Schwesig von der SPD zugestehen, die beim Streicheln der ostdeutschen Seele mit „Der Begriff ‚Unrechtsstaat‘ werde aber von vielen Menschen, die in der DDR gelebt haben, als herabsetzend empfunden“ einen intellektuellen Bankrott hingelegt hat.
Problematisch wird jedoch auch Ramelows Äußerung, sobald man sich seine Parteimitgliedschaft vor Augen führt. Als KPD- und SED-Erbe verwischt die Linkspartei weiterhin systematisch den Unterschied zwischen Faschismus und Nazismus, indem die Partei bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Nazismus als „Faschismus“ bezeichnet. Als wäre die „antifaschistische“ DDR, in der die Schüler beim „Hitlerfaschismus“ sehr viel über den imaginierten „Klassencharakter“ des NS-Regimes erfahren haben, aber sehr wenig über die höchst reale Judenverfolgung, nicht 1989/90 untergegangen, bedient sich die Linkspartei beim notorischen „Faschismus“-Geschrei weiter fröhlich aus dem Vokabular der kommunistischen Mottenkiste, wenn etwa hinter Hitler das „Monopolkapital“ ausgemacht wird, das mit dem Krieg gegen die Sowjetunion „imperialistische Raub- und Klassenziele“ realisieren wollte. Offenbar ist die Partei auch 30 Jahre nach der Wende noch immer nicht in der Bundesrepublik angekommen.
Schlimmer noch, selbst Ramelow, der nicht zu den DDR-Sozialisierten gehört, sondern aus der alten Bundesrepublik stammt, entblödet sich nicht, in unangenehmer Regelmäßigkeit den Nazismus als „Faschismus“ zu bezeichnen. Irgendwie ist dann doch wieder alles eine Grütze; Bauers schlichte „Aber der Nazismus ist mehr“-Erkenntnis überfordert Ramelow offenbar. Und das sogar am 8. Mai, an dem Ramelow so obszöne Sätze wie „Heute Morgen haben wir auf dem Hauptfriedhof #Erfurt des Tages der Befreiung vom Joch des Faschismus gedacht“ schreibt. Dass am 8. Mai die deutsche Wehrmacht – und damit Nazideutschland, ein hausgemachtes wie verbrecherisches Regime – kapituliert hat, geht komplett unter, stattdessen wurde die Welt scheinbar von etwas ursprünglich Italienischem befreit. Wie hat Jean Améry doch bereits so treffend gespöttelt: „Der Tod war kein Meister aus Deutschland. Er war faschistisch oder faschistoid.“
Sapere aude
Es funktioniert einfach nicht, sich selektiv (oder nach politischer Opportunität) auf Bauer zu berufen. Für Bauer war Nazideutschland keine Diktatur wie jede andere, sondern ein Sonderfall, bei dem es – schlimm genug – nicht nur zu verbrecherischen Handlungen kam, sondern der im Innersten selbst verbrecherisch war; eine institutionalisierte „kriminelle Wirklichkeit“. Dies – und wie es dazu kommen konnte – zu vermitteln, war Bauers Ansinnen hinter „Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“. Zu zeigen, was dem verbrecherischen Regime Vorschub geleistet hat – und eben nicht schadenfroh mit dem Finger auf Deutschland zu zeigen, Immanuel Kant durch den Dreck zu ziehen oder gar der „fast krankhaften Vaterlandslosigkeit so vieler Deutscher“ Vorschub zu leisten.
Und um zu zeigen, dass Befehl eben nicht Befehl, blinder Gehorsam keine Tugend ist. Selbst wenn man sich dabei auf Kant beruft. Sondern dass – so habe ich es zumindest verstanden – man trotz der tollsten Staatlichkeit, der ausgefeiltesten Gesetzgebung niemals aufhören darf, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.
Fritz Bauer
Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns
CEP Europäische Verlagsanstalt, Erstausgabe 1965, Neuausgabe 2016
122 Seiten